Zeitzeugen des Epochenbruchs
„Deutschland muss ein Industrieland bleiben – sonst können wir unseren Wohlstand nicht erhalten“, Friedrich Merz redete Klartext vor den rund 500 Gästen aus Wirtschaft, Politik, Verwaltung und Hochschulen, die der Einladung der IHK Arnsberg zum Jahresempfang folgten – erstmals in der 174-jährigen Geschichte mit einem amtierenden Bundeskanzler als Redner und ausnahmsweise in der Festhalle der Arnsberger Bürgerschützen. IHK-Präsident Andreas Knappstein erinnerte an die lange Verbundenheit des Sauerländer Politikers mit der Kammer, machte aber zugleich deutlich, wie ernst die Lage aus Sicht der Unternehmen ist und wie hoch die Erwartungen an die neue Regierung sind.
Knappstein sprach von Sorgen um die internationale Wettbewerbsfähigkeit, von hohen Energiepreisen, einem überlasteten Sozialstaat, lähmender Bürokratie und der Angst vor einer schleichenden Deindustrialisierung. Südwestfalen, so seine Botschaft, brauche verlässliche Rahmenbedingungen, wettbewerbsfähige Energiepreise für den breiten Mittelstand und einen Staat, der ermögliche statt bremse. Merz nahm diesen Ball auf und machte deutlich, dass auch die Regierung die Lage als außergewöhnlich betrachtet. Er erinnerte an den Krieg in der Ukraine, ungelöste Handelskonflikte und den Aufstieg populistischer Kräfte und sprach von einem politischen Handeln im Spannungsfeld von Krieg, Zollstreit und Populismus. Larmoyanz sei fehl am Platz, aber es habe in Deutschland schon deutlich einfachere Zeiten gegeben.
Im Zentrum der Rede stand die Diagnose einer „strukturellen Wachstumskrise“. Deutschland, so Merz, leide nicht unter einem vorübergehenden Konjunkturdip, sondern unter einer seit Jahren schwelenden Schwäche, weil die preisliche Wettbewerbsfähigkeit in großen Teilen der Industrie verloren gegangen sei. Anders als früher, als arbeitsintensive Branchen wie Textil und Schuhproduktion ins Ausland abwanderten, gerate heute die energieintensive, hochproduktive Industrie unter Druck: Stahl, Chemie, Maschinenbau, Automobilindustrie und zahlreiche Zulieferer. Diese Sektoren prägten den Kern des Industriestandorts, böten hochqualifizierte Arbeitsplätze und seien gerade für Regionen wie Südwestfalen prägend.

Foto: Wolfgang Detemple

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Als Reaktion verwies Merz auf die bereits beschlossene Absenkung der Körperschaftsteuer und verbesserte Abschreibungsmöglichkeiten, um Investitionen zu erleichtern. Noch wirksamer für viele Betriebe seien jedoch verlässliche Energiepreise. Hier nannte er die Abschaffung der Gasumlage, gesenkte Netzentgelte, eine niedrigere Stromsteuer und die geplante Kraftwerkstrategie, die unter anderem neue Gaskraftwerke vorsieht, die später auf Wasserstoff umgestellt werden können. Ergänzt werden soll dies durch einen Industriestrompreis für besonders energieintensive Unternehmen, der rückwirkend zum 1. Januar 2026 greifen soll. Merz ging damit auf einen Kritikpunkt Knappsteins ein, der bemerkte, dass dieser Industriestrompreis dem Gros der mittelständischen Unternehmen nicht zugutekomme, obwohl sie diese Subvention letztlich mitfinanzieren müssten. Merz entgegnete, Ziel sei es, die größten Kostentreiber anzugehen, ohne die industrielle Basis preiszugeben. „Wenn wir kein Industrieland bleiben, haben wir keine Chance, unseren Wohlstand auf Dauer zu erhalten“, fasste der Kanzler zusammen.
Breiten Raum nahm auch der Umbau des Sozialstaats ein. Merz kündigte eine Reform des Bürgergeldes an, die Anreize zur Arbeitsaufnahme stärken und bei fehlender Mitwirkung schärfere Sanktionen ermöglichen soll. Zudem soll für viele Geflüchtete, insbesondere aus der Ukraine, wieder das Asylbewerberleistungsgesetz gelten, um die Erwerbsquote zu erhöhen. Deutschland liege hier im europäischen Vergleich deutlich zurück, und es sei im beiderseitigen Interesse, mehr Menschen in Beschäftigung zu bringen. Gleichzeitig skizzierte Merz die Pläne für eine grundlegende Neuordnung der Altersvorsorge. Künftig solle das System stärker auf drei Säulen ruhen: gesetzliche Rente, betriebliche und private Vorsorge, beide mit einem wachsenden Anteil kapitalgedeckter Elemente. Über Änderungen im Betriebsrentengesetz, eine neue private Vorsorge und die Arbeit einer Rentenkommission solle ein tragfähiges Gesamtversorgungsniveau entwickelt werden, das demografiefest ist und den Kapitalmarkt stärker einbindet.
Mit der geplanten „Aktivrente“ will die Bundesregierung ältere Beschäftigte ermutigen, freiwillig länger zu arbeiten. Wer über die Regelaltersgrenze hinaus in sozialversicherungspflichtigen Beschäftigungen bleibt, soll künftig bis zu 2.000 Euro monatlich zusätzlich steuerfrei verdienen können. Ergänzt werden soll dies durch ein kapitalgedecktes langfristiges Sparmodell für Kinder und Jugendliche, das früh ein Bewusstsein für Vorsorge und Vermögensbildung schaffen soll. Beides, so Merz, diene nicht nur der individuellen Absicherung, sondern auch der besseren Eigenkapital- und Kapitalmarktbasis für Unternehmen.
Ein weiteres zentrales Thema war der Bürokratieabbau. Merz sprach offen von einer „überbordenden Bürokratie“, die Unternehmen und Verwaltung lähme. Als Antwort habe die Bundesregierung erstmals ein eigenes Ministerium für Digitalisierung und Staatsmodernisierung geschaffen, das Kompetenzen bündele und ressortübergreifend in Projektgruppen arbeite. Als vielleicht anspruchsvollstes Vorhaben stellte er die „Work-and-Stay-Agentur“ vor, eine zentrale digitale Plattform, über die Fachkräftezuwanderung von der ersten Kontaktaufnahme über Aufenthaltstitel und Arbeitsgenehmigung bis zur Anerkennung von Berufsabschlüssen vollständig digital abgewickelt werden soll. Dabei sollen Bund, Länder, Kommunen und Kammern zusammengeführt werden. Die Industrie- und Handelskammern, so Merz, spielten hierbei eine Schlüsselrolle, weil sie die berufliche Qualifikation ausländischer Fachkräfte beurteilen und anerkennen könnten. Für die Unternehmen der Region eröffne sich damit die Chance auf schnellere und verlässlichere Verfahren, wenn die Systeme erst einmal eingerichtet seien.
Im europäischen Kontext schlug der Kanzler den Bogen zu seiner eigenen Prägung als früherer Europaabgeordneter. Er erinnerte an die Einführung des europäischen Binnenmarktes Anfang der 1990er Jahre als „große Errungenschaft“ und beklagte zugleich, dass dieser sich in vielen Bereichen zu einem Binnenmarkt der Überregulierung entwickelt habe. Auf Basis von Berichten von Enrico Letta und Mario Draghi werbe er für einen Kurswechsel hin zu mehr Freiraum, weniger Bürokratie und einer stärkeren Wettbewerbsfähigkeit der europäischen Industrie. Beispiele dafür seien die geplanten Anpassungen beim europäischen Lieferkettenrecht und der Entwaldungsverordnung, deren bürokratische Belastungen für Unternehmen deutlich begrenzt werden sollen. Ein von Merz angeregter Sondergipfel der Staats- und Regierungschefs soll sich im kommenden Februar ausschließlich mit der industriellen Wettbewerbsfähigkeit Europas befassen.
Besonders eindringlich wurde Merz, als er die aktuelle Lage als „Epochenbruch“ beschrieb. Der Verlust des russischen Gases als sicherer Energiequelle, die verschärfte Konkurrenz aus China und eine unsicher gewordene Sicherheitsgarantie der USA veränderten die Rahmenbedingungen grundlegend. Deutschland und Europa könnten sich nicht mehr darauf verlassen, dass andere dauerhaft für Sicherheit, günstige Vorprodukte oder Energie sorgten. Die wirtschafts- und sozialpolitischen Reformen, der Ausbau der Verteidigungsfähigkeit, die Digitalisierung und der Bürokratieabbau seien deshalb nicht isolierte Politikprojekte, sondern Bausteine einer umfassenden Neuaufstellung in einer unsicher gewordenen Welt.
Am Ende stellte Merz eine Frage in den Mittelpunkt, die über alle tagespolitischen Debatten hinausreicht: Ist die Gesellschaft bereit, sich noch einmal tiefgreifenden Veränderungen zu stellen und Leistung, Verantwortung und Zuversicht neu zu betonen? Jede Generation, so Merz, habe ihren Epochenbruch erlebt. Die heutige Generation sei nun gefordert, Freiheit, Demokratie und Marktwirtschaft unter schwierigen äußeren Bedingungen zu behaupten. Dies könne nur gelingen, wenn Politik, Wirtschaft und Gesellschaft gemeinsam handelten. Wir alle seien nicht nur Zuhörer, sondern selbst „Zeitzeugen des Epochenbruchs“ – und Mitgestalter der Frage, ob Deutschland Industrieland und Innovationsstandort bleibt. von Stefan Severin